Vier Geschichten, eine Verbindung – Erinnerungen an die Klinikzeit
- Andy
- vor 1 Tag
- 5 Min. Lesezeit
Menschen, die bleiben – Begegnungen in einer besonderen Zeit
Wenn ich an meine Zeit in der Fachklinik zurückdenke, denke ich nicht nur an Therapien, an Routinen oder an die Herausforderungen, die der Aufenthalt mit sich brachte. Ich denke an die Menschen.
Tisch 4 wurde für mich mehr als nur ein Essplatz – er wurde ein Raum, in dem sich Verbindung formte, oft ohne große Worte. Kerstin, Klaus und Sylvie waren an meiner Seite, Tag für Tag, ganz selbstverständlich. Später kam Dorit hinzu, nicht bei uns am Tisch, aber durch Gespräche in der Gruppentherapie, durch Momente, die keine festen Strukturen brauchten, um Bedeutung zu haben.
Jede dieser Begegnungen war einzigartig. Manche brauchten Zeit, um sich zu entwickeln, andere entstanden aus spontanen Gesten. Doch alle hatten eines gemeinsam: sie haben mir gezeigt, dass Heilung nicht nur in Therapiesitzungen passiert, sondern auch im Zuhören, im gemeinsamen Lachen, in der stillen Unterstützung, die manchmal mehr sagt als tausend Worte.
Dieser Text ist eine Erinnerung an diese Menschen – an die Verbindung, die bleibt.
Kerstin – Die anfängliche Distanz und das langsame Verstehen
Zu Beginn fühlte ich mich fehl am Platz. Ich saß drinnen am Tisch, während Kerstin und Inga, eine weitere Patientin, draußen auf der Terrasse aßen – getrennt nur durch eine Tür, die zu dieser Jahreszeit tagsüber offenstand, und doch schien es mir, als läge eine unsichtbare Barriere zwischen uns.
Vielleicht war es die Unsicherheit, die sich in jede Beobachtung schlich. Vielleicht war es die Angst, nicht wirklich dazuzugehören. Die Klinik war ein neuer Raum, voller Menschen, die ihre eigenen Geschichten mitbrachten – und meine passte sich noch nicht ein. Ich begann, in diese Distanz eine Bedeutung hineinzulesen, eine Art Ablehnung, die möglicherweise nie wirklich existierte.
Es dauerte, bis ich verstand: die Distanz war keine Absicht, kein bewusstes Ausgrenzen. Sie war einfach eine Gewohnheit, eine Vorliebe. Und je länger ich dort war, desto mehr merkte ich, dass echte Nähe nicht nur daraus entsteht, ob man am selben Tisch sitzt – sondern daraus, wie man sich im Laufe der Zeit begegnet.
Nach und nach verschwand die Unsichtbarkeit. Gespräche wurden häufiger, die Bindung begann sich zu formen, leise, fast unmerklich. Irgendwann spürte ich: Ich war nicht mehr nur jemand, der an diesem Tisch saß. Ich war Teil davon geworden.
Manchmal entstehen Verbindungen nicht durch sofortige Offenheit, sondern durch das langsame, geduldige Verstehen. Und genau das war es, was ich bei Kerstin gelernt habe.
Klaus – Ein neuer Weg, eine unerwartete Verbindung
Manchmal entstehen besondere Begegnungen aus den einfachsten Gesten. Klaus kam zu unserem Tisch, weil seine ursprüngliche Tischgemeinschaft sich aufgelöst hatte – die Mitpatienten an seinem Platz hatten ihre Klinikzeit beendet und waren nach Hause gegangen. Zurück blieb er, allein an einem Tisch, der sich plötzlich leer anfühlte.
Ich kannte Klaus bereits aus der Nordic-Walking-Gruppe. Unsere erste Begegnung war geprägt von einem Moment unerwarteter Unterstützung: als er als Neuling zum Walking-Termin kam, boten ihm einige Mitpatienten Hilfe an, doch am Start hatten sie das scheinbar vergessen. Ich, selbst noch unsicher und neu, ging zu ihm, bot meine Hilfe an, und wir liefen die gesamte Strecke gemeinsam. Das Gespräch war ungezwungen, einfach, und doch entstand daraus eine Verbindung.
In einem Gespräch erwähnte er, ganz alleine an seinem Tisch zu sitzen, da fühlte es sich selbstverständlich an, ihm erneut diesen Raum der Zugehörigkeit anzubieten. Ich fragte ihn, ob er nicht zu uns an Tisch 4 kommen wollte – nicht als Gast, sondern als Teil der Gruppe.
Und so wurde aus einer zufälligen Begegnung eine feste Verbindung. Kein großes Ereignis, kein erzwungenes Kennenlernen – nur eine Einladung, einen Platz zu teilen. Und manchmal sind es genau diese kleinen, scheinbar unscheinbaren Momente, die langfristig Bedeutung gewinnen.
Sylvie – Offenheit als Brücke
Als Sylvie nach drei Wochen in der Klinik zu uns an den Tisch kam, Inga hatte ihre Klinikzeit beendet, erkannte ich in ihr etwas wieder – die Unsicherheit, das vorsichtige Abtasten einer neuen Umgebung, das Gefühl, in einem bereits bestehenden Kreis einen Platz zu finden. Ich wusste, wie schwierig dieser Anfang sein konnte.
Also versuchte ich, es für sie leichter zu machen – nicht mit großen Gesten, sondern mit Offenheit. Ich fragte nach ihrem Tagesplan, nach ihren anstehenden Terminen, erzählte ihr, was bei mir noch bevorstand. Es war keine gezielte Einladung, sondern eine Tür, die offenstand. Ein Zeichen, dass sie jederzeit Teil des Gesprächs sein konnte, dass sie nicht alleine durch die ersten Tage gehen musste.
Manchmal sind es nicht die direkten Fragen oder Vorschläge, die eine Verbindung schaffen, sondern das selbstverständliche Einbeziehen, das Vermitteln eines Gefühls von Zugehörigkeit – ohne Druck, ohne Erwartung. Und genau das wollte ich Sylvie geben: das Gefühl, dass sie nicht allein war, dass sie angekommen war.
Dorit – Begegnungen zwischen den Zeilen
Manche Bekanntschaften entstehen nicht durch feste Rituale, sondern durch die leisen Momente dazwischen – durch zufällige Aufeinandertreffen auf dem Klinikflur, durch geteilte Blicke in Gruppensitzungen, durch Worte, die vielleicht erst beim zweiten Gespräch ihre volle Bedeutung entfalten. So war es mit Dorit.
Unsere Gespräche entstanden ohne Planung – als flüchtige Momente, die sich mit der Zeit zu etwas Tieferem entwickelten. Mal war es ein kurzer Satz nach der Therapiestunde, der lange nachwirkte. Mal ein gemeinsames Nachdenken über ein Thema, das uns beide beschäftigte.
In der Gruppentherapie konnte ich ihre Gedanken hören, ihre Sicht auf die Dinge, ihre Kämpfe, die sie mit so viel Klarheit und Ehrlichkeit teilte. Das schuf eine unsichtbare Verbindung – nicht auf eine Art, die täglich gepflegt werden musste, sondern eine, die einfach da war, wenn wir uns begegneten.
Manchmal brauchen Begegnungen keine feste Struktur, keinen täglichen Austausch, um Bedeutung zu haben. Manchmal reicht es, dass sich zwei Menschen in ihren Gedanken wiederfinden – und sich erinnern, dass sie nicht allein sind.
Die Chiemsee Connection – Mehr als eine Klinikgemeinschaft
Was als einfache Tischgemeinschaft begann, entwickelte sich über die Wochen zu etwas Tieferem. An unserem Tisch 4 saßen Kerstin, Klaus, Sylvie und ich – erst als einzelne Menschen mit unterschiedlichen Geschichten, dann als eine kleine Einheit, die sich gegenseitig trug, ohne es bewusst zu planen.
Doch diese Verbindung endete nicht mit dem Abschied aus der Klinik. Ich benannte unsere WhatsApp-Gruppe um – von „Tisch 4“ hin zur „Chiemsee Connection Therapiegruppe“. Es war mehr als nur ein Name. Es war eine Erinnerung daran, dass wir uns in einer Zeit begegnet waren, in der wir alle nach Halt suchten. Eine Bestätigung, dass die Gespräche, die gemeinsamen Mahlzeiten, die ehrlichen Momente nicht nur für den Klinikaufenthalt Bedeutung hatten – sondern darüber hinaus.
Als Dorit später dazukam, wurde aus der Gruppe noch mehr: Ein Raum, in dem wir ein Stück der gemeinsamen Zeit festhalten konnten, in dem wir Erinnerungen teilten und uns gegenseitig daran erinnerten, dass wir nicht allein sind – auch außerhalb der Klinik.
Vielleicht ist das einer der wichtigsten Aspekte der Heilung: Die Menschen, die uns begleiten, die uns durch die schwersten Zeiten tragen, manchmal ohne es selbst zu merken. Wir sind nicht mehr nur Patienten, die an einem Tisch saßen – wir sind eine Verbindung, die selbst heute, mehr als 7 Monate nach der Klinik, über diesen Ort hinaus Bestand hat.
Vielen Dank dafür, Ihr seid mein Anker in der Not!

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